DER MITTWOCH VOR DEM PASSAHFEST 1. DER TAG

nach Maria Valtorta

Jesus geht in den Tempel, in dem heute noch mehr Menschen als an den vorhergehenden Tagen sind. Er ist ganz in weiß und trägt ein Leinengewand. Es ist ein schwüler Tag.

Er geht, um im Vorhof der Israeliten anzubeten, und ein Schwarm Leute folgt ihm, während andere schon die besten Plätze in den Säulengängen eingenommen haben; es sind hauptsächlich Heiden, die nicht weiter als in den ersten Vorhof, den Vorhof der Heiden, gehen dürfen und die die Gelegenheit wahrgenommen haben, sich die guten Plätze auszusuchen, während die Hebräer Christus gefolgt sind.

Aber eine zahlreiche Gruppe von Pharisäern treibt sie auseinander. Sie sind immer so arrogant und drängen sich anmaßend vor, um zu Jesus zu gelangen, der sich über einen Kranken beugt. Sie warten, bis dieser geheilt ist, und schicken dann einen Schriftgelehrten zu Jesus, damit er ihn befrage.

Zuvor hat es unter ihnen einen kurzen Streit gegeben, denn Joel, genannt Alameth, will gehen und den Meister befragen. Aber ein Pharisäer widersetzt sich, und die anderen unterstützen ihn mit den Worten: «Nein. Wir wissen, dass du für den Rabbi Partei ergreifst, auch wenn du es nur heimlich tust. Laß Urias gehen...»

«Urias nicht», sagt ein anderer junger Schriftgelehrter, den ich noch nicht kenne. «Die Redeweise des Urias ist zu grob. Er würde die Leute verärgern. Ich gehe.»

Ohne auf die Proteste der anderen zu hören, geht er selbst zum Meister, gerade in dem Augenblick, als Jesus den Kranken entläßt und zu ihm sagt: «Habe Vertrauen. Du bist geheilt. Das Fieber und die Schmerzen werden nicht mehr wiederkehren.»

«Meister, welches ist das größte Gebot im Gesetz?»

Jesus, der ihn im Rücken hat, wendet sich um und schaut ihn an. Das sanfte Licht eines Lächelns erhellt sein Antlitz. Dann erhebt er das Haupt, dass er gesenkt hatte – denn der Schriftgelehrte ist klein und hat sich zudem ehrerbietig verneigt – läßt den Blick über die Menge schweifen, richtet ihn auf die Gruppe der Pharisäer und Lehrer, entdeckt das blasse Gesicht Joels halb verborgen hinter einem dicken, schwammigen Pharisäer und lächelt noch mehr. Das Lächeln ist ein Licht, dass den ehrlichen Schriftgelehrten liebkost. Dann senkt er das Haupt wieder, sieht sein Gegenüber an, und antwortet ihm: «Das größte der Gebote ist: „Höre, Israel: der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Du sollst den Herrn deinen Gott lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit allen deinen Kräften!' Dies ist das erste und höchste Gebot. Das zweite aber ist diesem gleich: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Es gibt keine größeren Gebote als diese. An ihnen hängt das ganze Gesetz und die Propheten.»

«Meister, du hast weise und wahr geantwortet. So ist es. Gott ist ein Einziger, und es gibt keinen anderen Gott außer ihm. Ihn zu lieben aus ganzem Herzen, aus ganzem Verstand, aus ganzer Seele und mit allen Kräften, und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, dass ist weit mehr als jedes Brandopfer und andere Opfer. Ich denke oft daran, wenn ich die Worte Davids betrachte: „Brandopfer gefallen dir nicht; das Gott wohlgefällige Opfer ist ein reuiger Sinn.“»

«Du bist nicht fern vom Reich Gottes, denn du hast begriffen, welches das Gott wohlgefällige Brandopfer ist.»

«Aber welches ist das vollkommenste Opfer?» fragt der Schriftgelehrte rasch und mit leiser Stimme, als würde er ein Geheimnis aussprechen.

Jesus strahlt vor Liebe und läßt diese Perle in das Herz dessen fallen, der für seine Lehre aufgeschlossen ist, für die Lehre des Reiches Gottes; über ihn geneigt sagt er: «Das vollkommenste Opfer ist: jene, die uns verfolgen, wie uns selbst zu lieben und nicht auf Rache zu sinnen. Wer dies tut, wird den Frieden besitzen. Es steht geschrieben: „Die Sanftmütigen werden die Erde besitzen, und sie genießen die Fülle des Friedens!' Wahrlich, ich sage dir, wer seine Feinde liebt, erreicht die Vollkommenheit und besitzt Gott.»

Der Schriftgelehrte grüßt ihn ehrerbietig und kehrt dann zu seiner Gruppe zurück, die ihn flüsternd tadelt, weil er den Meister gelobt hat. Und voll Zorn fragen sie: «Was hast du ihn im geheimen gefragt? Bist vielleicht auch du von ihm verführt?»

«Ich habe den Geist Gottes durch seinen Mund sprechen gehört.»

«Du bist ein Dummkopf. Glaubst du etwa, dass er der Christus ist?»

«Ich glaube es.»

«Wahrlich, in Bälde werden keine Schriftgelehrten mehr in unseren Schulen sein, sie laufen alle diesem Menschen nach! Aber wieso siehst du in ihm den Christus?»

«Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich fühle, dass er es ist.»

«Verrückter!» Sie drehen ihm beunruhigt den Rücken zu.

Jesus hat das Gespräch beobachtet, und als die Pharisäer in einer geschlossenen Gruppe an ihm vorbeigehen, um sich wütend zu entfernen, ruft er sie und sagt: «Hört mich an. Ich möchte euch etwas fragen. Was haltet ihr von Christus? Wessen Sohn ist er?»

«Er wird der Sohn Davids sein», antworten sie ihm und betonen das «wird», denn sie wollen ihm zu verstehen geben, dass er für sie nicht der Christus ist.

«Und warum nennt ihn dann David im Geist „Herr“ ' wenn er sagt: „Der Herr sprach zu meinem Herrn: 'Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde als Schemel dir zu Füßen lege'? Wenn also David den Christus „Herr“ nennt, wie kann dann Christus sein Sohn sein?»

Da sie nicht wissen, was sie ihm antworten sollen, entfernen sie sich und schlucken ihr Gift hinunter.